Bildungssystem in Balance bringen

Professor Julian Nida-Rümelin fordert bessere Nutzung der Potentiale

„Akademisierungswahn“: Dieser Vortragstitel motivierte rund 170 Gäste der Einladung der Wirtschaftsjunioren Paderborn + Höxter, der IHK-Zweigstelle Paderborn + Höxter, der Kreishandwerkerschaft Paderborn-Lippe, der Unternehmergruppe Ostwestfalen (UGO) und den Handwerksjunioren Paderborn zu folgen. „Mit dieser Veranstaltung wollen wir die Eltern, die Politik und die Öffentlichkeit zum Nachdenken anregen. Mittlerweile starten in Deutschland mehr junge Menschen in ein Studium als in eine Duale Ausbildung- Tendenz steigend. Das beschert uns letztlich keine Balance zwischen Ausbildung und Studium“, so Thomas Koch, Vorsitzender der UGO. Professor Julian Nida-Rümelin, Gastreferent des Abends und einer der renommiertesten Philosophen unseres Landes warnt vor der sich breitmachenden Vorstellung von Eltern, ihre Kinder hätten ausschließlich mit Abitur und einem Studium eine Chance im Leben. Ein Jahresbruttogehalt von 18.000 Euro verdiene ein Veterinärmediziner als Berufsanfänger und zahlreiche Bachelorabsolventen erhielten nur schwer einen adäquaten Arbeitsplatz, weil die Unternehmen unzufrieden mit deren Qualifikation seien. Auch Jürgen Behlke, Geschäftsführer der IHK-Zweigstelle Paderborn + Höxter sieht die Entwicklung bedenklich: „Mit dem Bachelorabschluss erhält man heute eine Stelle als Sachbearbeiter. Jemand, der eine Ausbildung absolviert hat, hat im Vergleich zum Uni-Absolventen schon mehrere Jahre Berufserfahrung. Das wirkt sich viel positiver auf das Gehalt aus.“

Obwohl die Bologna-Reform die Vermittlungsfähigkeit der Absolventen in die Unternehmen verbessern sollte, ist das Gegenteil eingetreten. Verkürztes Abitur, drei Jahre Studium mit entsorgten Bildungsinhalten: Das seien für die meisten Absolventen keine Erfolgsfaktoren für einen karriereträchtigen beruflichen Einstieg, denn die Zufriedenheit der Arbeitgeber mit Bachelorabsolventen ist enorm gesunken. Gleichzeitig zitiert Nida-Rümelin die OECD, die die geringe Akademikerquote in Deutschland (17 %) für katastrophal hält. Sicher könne Deutschland noch rund ein Drittel mehr Akademiker vertragen. Auf der anderen Seite hätte Deutschland aber auch deutlich geringere Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich zu anderen europäischen Ländern.
In Paderborn absolvieren zurzeit rund 960 Menschen eine Ausbildung in einem der 2.500 Handwerksbetriebe. „Es stehen noch viele offene Stellen zur Verfügung, doch Betriebe erhalten nur wenige Bewerbungen. Damit verlieren wir langfristig Ausbildungskapazitäten. Wenn diese weiter zurückgehen, wird sich diese Situation auch gesamtwirtschaftlich auswirken, da gut ausgebildete Handwerker in Zukunft nicht mehr verfügbar seien“, ist Peter Gödde, Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Paderborn-Lippe überzeugt. Auch Christian Horlitz, Vorsitzender der Wirtschaftsjunioren Paderborn + Höxter appelliert: „Wir müssen dem Handwerk viel mehr Wertschätzung entgegen bringen. Die Fähigkeiten in diesen Berufen erfordern außergewöhnliche hohe Qualifikationen. Was nützt es, wenn wir in Deutschland großartige Ingenieursentwicklungen hervorbringen, aber nicht mehr in der Lage sind, diese zu produzieren.“

Nida-Rümelin hebt hervor, dass es in Deutschland viele erfolgversprechende Wege in den Beruf gäbe: die klassische Berufsausbildung innerhalb des dualen Systems, das duale und praxisorientierte Studium sowie die Hochschulausbildungen. Schulabgänger hätten heute zu wenige Informationen über die Möglichkeiten. Außerdem sei der Druck auf die Lehrer, alle Schüler durch das Abitur zu bringen enorm groß. Und um nicht als Bildungsverlierer zu gelten, sei es in Akademikerhaushalten keine Frage, dass die Kinder ein Studium absolvieren. Aber auch Eltern mit anderem beruflichen Hintergrund wünschen sich für ihre Kinder das Abitur und den Studienabschluss. Für Julian Nida-Rümelin müsste in der Gesellschaft der Begriff der Bildung jedoch viel breiter aufgestellt werden. Er fordert: mehr Respekt vor haptischer und sozialer Bildung, eine bessere Stärkung der Vielfalt, die optimalere Nutzung der Potenziale und eine größere Offenheit gegenüber den mannigfaltigen Möglichkeiten beruflicher Orientierung. Ganz wichtig ist ihm auch die Verbesserung der frühkindlichen Förderung, um Fähigkeiten und Talente so früh wie möglich zu erkennen. „Nicht jeder der das Abitur macht, ist auch für ein wissenschaftliches Studium geeignet. Von 53 Prozent der Studierenden machen nur 31 Prozent einen Abschluss. Viele wählen den falschen Weg, weil sie nicht wissen, wo sie ihre persönlichen Neigungen am besten einsetzen könnten“, sagt Nida-Rümelin. „Dieser Fehlsteuerung müssen wir entgegenwirken, damit Berufsanfänger langfristig Erfolgserlebnisse haben und unsere Wirtschaft von der Vielfalt der Fähigkeiten profitieren kann.“

Bildzeile:
Christian Goll (Geschäftsführer Handwerksjunioren Paderborn)
Christian Horlitz (Vorsitzender der Wirtschaftsjunioren Paderborn + Höxter)
Jürgen Behlke (Geschäftsführer IHK Ostwestfalen zu Bielefeld, Zweigstelle Paderborn + Höxter)
Professor Julian Nida-Rümelin
Thomas Koch (Vorsitzender Unternehmergruppe Ostwestfalen)
Peter Gödde (Hauptgeschäftsführer Kreishandwerkerschaft Paderborn-Lippe)


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